(Gastbeitrag Annemarie Kummer Wyss) Kann eine externe Beraterin für Bildungssysteminnovation in der Schweiz Effectuation wirksam für Prozessbegleitung und Coachingmomente nutzen? Das öffentliche Schulsystem ist ja nicht gerade dafür bekannt, unternehmerische Prinzipien zu nutzen und besonders innovativ zu sein … Was geht trotzdem?
Denn die Kundschaft kommt von alleine (Schulpflicht…), Konkurrenz besteht kaum (Privatschulen…), entsprechend müssen weder Lehrpersonen, Schulleitungen noch Schulbehörden (meistens Laien) unternehmerisch denken. Sie müssen auch nicht zwingend innovativ sein und – zwar längst bekannte und auch zum Teil hinreichend erforschte – wirksame Lernsettings umsetzen; Lehrpläne sind Jahrzehnte-Projekte und -Setzungen. Aus diesen (und weiteren Gründen) bewegt sich Schule langsam, sie verändert sich zwar stetig – und ist aber dabei insbesondere auch von der Politik abhängig (ein weiteres eher schwerfälliges Change-Biotop…)!
Systeminnovation in der öffentlichen Schule…
Ich wurde als externe Beraterin im März 2017 von den Verantwortlichen eines Schweizer Kantons angefragt, ob ich die Umsetzung einer Bildungsreform beratend begleiten könne. Bereits ab September 2016 war ich an einigen Sitzungen zu Fragen der Weiterbildung und Begleitung der Schulen in der Innovation anwesend und stellte Fragen – aus der Sicht einer Beraterin, die bereits in anderen Kantonen und in verschiedenen Rollen die Entwicklung und Umsetzung von Bildungsreformen begleiten respektive gestalten durfte.
Ich versuchte dabei eher intuitiv mit der Ungewissheit der Zukunft der in diesem Kanton geplanten Bildungsreform umzugehen und die kantonale Steuergruppe, die an der Planung des Innovationsimpulses war, dahingehend zu unterstützen, «Piloten» im Umsetzungsprozess zu bleiben und das Steuer, an das sie tatsächlich kamen, in der Hand zu behalten.
Denn bereits im Dezember 2016 hatte das Kantonsparlament entschieden, den Kredit für die Umsetzung zur Modernisierung des gesamten Schulsystems für ein Jahr zurückzustellen. Es bremste somit die Innovation aus. Nicht betroffen davon war netterweise der Kredit für die Weiterbildung – ein Glücksmoment für das Prinzip der Zufälle in Effectuation! Denn der Kredit wurde umgehend dafür genutzt, diejenigen Schulen, die bereit waren erste Umsetzungsschritte zu erproben (die also als naheliegende Partner zur Verfügung standen), im Rahmen eines «Weiterbildungsprojektes» zu unterstützen und deren Innovationsenergie zu nutzen. Zur «Co-Koordination» des Projektes wurde ich als Beraterin und der Leiter der Weiterbildungsstelle in der Pädagogischen Hochschule angefragt. Wir orientierten uns in dieser Situation an den vorhandenen Mitteln noch ohne die genaue Zielorientierung zu kennen.
Effektuierend beraten
Schon die Ausgangslage, vielleicht etwas «abstrakt» formuliert oben, enthält diverse Momente, die mit den Prinzipien von Effectuation begriffen werden können und die dadurch wieder Energie und Handlungsmöglichkeiten eröffnen, trotz der gegensteuernden Politik und interner Widerstände anderer Schulen, Leitungen, Lehrpersonen. Man kann sich gut vorstellen, dass gerade in einem sehr sicheren (Arbeitsplatzsicherheit als Lehrperson) und «konservierenden» (z.B. in Bezug auf die Inhalte: Vermittlung von Kulturtechniken und Inhalten, die historisch unwidersprochen sind) Arbeitsumfeld der öffentlichen Schule besondere Kräfte in den Widerstand gehen, wenn’s um Veränderung geht. Dass ich als Beraterin lieber mit dem Widerstand anstatt gegen ihn arbeite, ist selbstverständlich. In dieser komplexen Situation eines gesamtsystemischen Innovationsimpulses wollte ich die Ausgangslage aber mal etwas anders denken.
Es muss auch dies ein spezieller Umstand gewesen sein, dass ich genau im Frühling 2017 im Rahmen einer Weiterbildung als Organisationsberaterin zum Thema Zukunft, Werte und Energie auf «Effectuation» stiess. Innerhalb eines halben Kurstages war ich entflammt – die Entscheidung, das Mandat anzunehmen war gefasst. Die Einsicht, dass ich ja – wenn überhaupt – nur wenige Ideen für die Zukunft haben muss, dafür Gestaltungsenergie in der Gegenwart, war sehr entlastend:
- Wir entwickelten ein «Rahmenprogramm» für die Innovations-Schulen, in dem wir Prozessbegleitende vorsahen, die mit den Schulen in die Entwicklungsarbeit einstiegen mit der zukunftsgestaltenden Grundidee, den zentralen Prinzipien der geplanten Schulreform reflexiv auf den Grund zu gehen und in einem sog. «Portfolio» zu sammeln. Dieser Rahmen gab uns einen marginalen Orientierungsraum für die Steuerung des Projektes insgesamt. („pilot in the plane“ / „Steuern statt vorhersagen“)
- Die konkreten Methoden, wie vor Ort gearbeitet werden sollte, waren offen und sollten laufend mit den «Schulcoaches» entwickelt werden. Sie würden unterschiedliche Fähigkeiten und Ideen mitbringen. Die Schulen hatten ihrerseits sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Schul- und Unterrichtsentwicklung, mit kollegialer Zusammenarbeit und Austausch, zudem waren die organisationalen Möglichkeiten in den Grund- und Sekundarschulen sehr divers. („bird in hand“ / „Mittelorientierung“)
- Wir konzentrierten uns auf die Schulen, die wollten und auf die «Schulcoaches», die einstiegen – und von den Schulen als Prozessbegleitende gewählt wurden. („crazy quilt“ / „Partnerschaften und Vereinbarungen“)
- Und in dem Ganzen wollten wir unbedingt offen bleiben dafür, die jeweils entstehenden Umstände möglichst gut zu nutzen und Zufälle hoffentlich schnell zu sehen („lemonade“ / „Zufälle nutzen“)
- Als Grenze unseres Einsatzes und des Fortschreitens des Projekts war die Bereitschaft der Lehrpersonen zu sehen, sich auf einen ereignisoffenen, aber produktorientierten (Portfolio) Prozess einzulassen. Ebenfalls wäre es nicht möglich gewesen, wenn ein «Schulcoach» ausgestiegen wäre – zumindest nicht mehr für die von ihm oder ihr begleiteten Schule. Da das Weiterbildungsbudget die Projektfinanzierung grundsätzlich sicherte, gab’s auf dieser Seite zumindest keine Hürde. („affordable loss“ / „Leistbarer Verlust“)
Zukunft gestalten in der Gegenwart…
…heisst in unserem Innovationsimpuls vor allem eins: Auf die laufend auftauchenden Überraschungen und Wendungen aus allen Ebenen des Systems zu reagieren, sie aufzugreifen und aktiv mitzugestalten. Positive Beispiele hierzu kamen aus dem «Projekt» selber:
- Die Ideen der Schulcoaches, die an gemeinsamen Intervisionssitzungen entstanden, wurden umgesetzt, die Erfahrungen sofort wieder ausgetauscht, Methoden angepasst.
- Lehrpersonen und Schulleitungen brachten ihre Ideen, ihr Verständnis für die Leitgedanken der Reform ein – im Rahmen ihrer Möglichkeiten und ihrer Veränderungsenergie, die durchaus unterschiedlich motiviert war.
- Die Führungsetage der kantonalen Bildungsverwaltung gab uns den nötigen Raum, die zum Teil bewusst unfertig gedachten Prinzipien und Innovationsideen für die «kommende Schule» unter Einbezug verschiedener Projektpartner weiterzudenken und konkret zu werden.
Der Umstand leistbarer Einsätze: «Fachdidaktik-Beratende»
Im Laufe des Projekts tauchten aus dem System selber bereits bestehende, aber auch neu eingerichtete «Partner» auf, die wir nicht nur optimal einbinden konnten. So gibt es z.B. seit dem Oktober 2017 sog, «fachdidaktische Beraterinnen und Berater», welche die Lehrpersonen in den Innovationsschulen bei der Entwicklung ihrer Unterrichtspraxis unterstützen sollen. Das macht durchaus Sinn auf der Sekundarstufe I, auf der Lehrpersonen ein Fach (oder allenfalls zwei) unterrichten und deshalb die Fachdidaktik einen grossen Stellenwert hat. Das macht aber wenig Sinn in der Grundschule, in der Lehrpersonen praktisch alle Fächer selber unterrichten und deshalb pädagogisch und bildungswissenschaftliche Grundthemen wesentlich wichtiger sind. Da die eingestellten Fachdidaktik-Beratenden weitgehend aus Sekundarstufe I und II stammen, haben sie auch weder Erfahrung noch den fachlichen Hintergrund für den Unterricht in Kindergarten und Primarstufe. Zudem waren die meisten vorher mit Aufsichtsaufgaben betreut: Sie bewerteten Lehrpersonen und ihren Unterricht. Der Switch in eine beratende und coachende Rolle gestaltete sich für praktisch alle ausnahmslos schwierig… (verständlicherweise…!). Die Partnerschaft mit diesen Fachdidaktik-Beratenden sprengte aber unseren Prozess-Rahmen und vor allem die Einsatzmöglichkeiten unserer engeren Projektpartner und von uns selber. In diesem Zusammenhang wurde eine Grenze des leistbaren Einsatzes erreicht.
Wir entschieden, die Fachberatenden zuerst auf einer planerisch-organisatorischen Ebene einzubinden, ihnen ebenfalls eine Entwicklungsarbeit zu übertragen, bevor wir sie dann mit ihrer neuen Identität konfrontieren würden… Ob das funktioniert, das wissen wir noch nicht. Aktuell sind sie daran, sich über ein neues Lernsetting auszutauschen, dies für sich zu klären und Beispiele für die Umsetzung zu generieren…
Effectuation als Haltung… trotz widriger Umstände
Die Widerstände, die sich von aussen (Parteien) und innen (Gruppierungen von Lehrpersonen, aber auch Schuldirektionen) des Bildungssystems vor allem auf den gesamten Innovationsimpuls richtete, konnten zum Teil gut «abgelenkt» werden, da es weniger um das die Reform vorbereitende «Weiterbildungsprojekt» ging.
Die Abhängigkeit vom politischen System zeigt sich jedoch schliesslich tatsächlich als Hürde für den Innovationsimpuls insgesamt. Im Dezember 2017 hätte das Parlament der Umsetzung der Reform zustimmen sollen. Konservative Kräfte schafften es, die Abstimmung zu vertagen. Als sie schliesslich im März 2018 stattfand, stimmte das Parlament mit 51:19 Stimmen zu. Kaum war der Sekt ausgetrunken, zückten allerdings dieselben Konservativen ihre letzte Waffe in der direkten Demokratie: Das Referendum, das – sollten die nötigen Unterschriften zustande kommen – zur Volksabstimmung führen wird. Im Moment hängen wir in der Luft, die Schulen wurden ein weiteres Mal ausgebremst, der Frust ist gross. Positiv ausgedrückt, haben wir nun ein weiteres Jahr der Vorbereitung vor uns, sofern das Volk schliesslich der Reform zustimmt.
In diesem Beratungsprozess, der von kontinuierlichen «Stop» and «Go’s» geprägt ist, ist Effectuation ein wertvoller Ansatz für uns als «Piloten»: Immer wieder wird unsere an-gestaltete Zukunft durch Entscheidungen «von oben» verändert – immer wieder gilt es,
- die bestehenden Mittel (auch weil wir andere nicht kriegen)
- mit den bereit stehenden Partnern (die wir noch besser einbinden müssen)
- unter Berücksichtigung der leistbaren Einsätze auszuloten und den
- wechselnden Umständen entsprechend einsetzen.
Ob die Schule, die man in diesem Kanton möchte, tatsächlich kommt, das wissen wir nicht, aber wir sind mit einer «effektuierenden Haltung» daran, sie bereits zu gestalten!
Annemarie Kummer Wyss (Oberrieden/ ZH & Luzern) arbeitet seit Jahren als Beraterin auf verschiedenen Ebenen des Bildungssystems. In diesem Beitrag reflektiert sie ihre Erfahrung ‚effektuierender Schulentwicklung‘.