(Gastbeitrag von Oliver Schmidt) Unter welchen Bedingungen ist
Effectuation besonders sinn- und wirkungsvoll? Eine relevante Frage. Das
Cynefin Framework könnte bei der Einordnung helfen…
Der Berater Dave Snowden hat 2007 in der harvard business review das Management Framework „Cynefin vorgestellt, das Situationen in Unternehmen ebenso einfach wie klug voneinander unterscheidet. Denn neben neuen Managementansätzen wollen wir über bewährte und klassische Ansätze wissen, welche Rolle sie in unserer Arbeit noch spielen können. Die beiden Leitfragen lauten: wie einfach oder kompliziert ist ein Problem, das uns beschäftigt? Wie stabil oder dynamisch sind die Rahmenbedingungen?
So entstehen vier Domänen, die unterschiedliche Situationen beschreiben und in denen wir mit verschiedenen Managementsystemen agieren können:
- In einfachen Situationen arbeiten wir nach Rezept, die Schrittfolge lautet „Einordnen und Loslegen“, denn die Fragestellungen hier sind uns schon häufig begegnet. Fahrrad flicken? Selbst wer es zum ersten mal macht, findet im Netz für jeden Zweiradtyp die richtige Anleitung. Einen Apfelkuchen backen? Wer sich in seiner eigenen Küche auskennt (also stabile Rahmenbedingungen vorfindet) und die nötigen Ressourcen zur Verfügung hat, der kann nichts falsch machen.
- In Unternehmen werden diese Prozessen durch Qualitätsmanagement oder Prozessoptimierung geregelt, und im Prinzip ist es das selbe: hat sich eine Vorgehensweise einmal bewährt, wird sie dokumentiert und kann ab sofort bestens optimiert und nicht zuletzt kontrolliert werden.
- Auf komplizierte Situationen treffen wir ebenfalls in stabilen Rahmenbedingungen (unsere Küche, unser Unternehmen), aber das Problem ist eben komplizierter. Ist an meinem Fahrrad nicht nur der Schlauch platt, sondern die Lenkung verbogen, hilft mir der Experte. Der Fahrradmechaniker kann durch klassisches Management aus Analyse, Strategie und abschließender Kontrolle wahrscheinlich mein Problem lösen. Die Vorhersage von Zukunft, ein wesentliches Unterscheidungskriterium der vier Domänen, funktioniert hier ebenso, wie in einfachen Situationen – nur ist sie eben den jeweiligen Experten vorbehalten.
- In komplexen Situationen ist Zukunft nicht vorhersagbar, denn erstens sind die Fragestellungen vielschichtig und zweitens ändern sich Rahmenbedingungen so dynamisch wie ein Wasserstrudel. Gründe ich ein Unternehmen, habe ich plötzlich viele Fragen zu beantworten. Finanzielle, organisatorische, juristische und persönliche Aspekte sind ineinander verwoben und die Beantwortung einer Frage beeinflusst alle anderen. Die Randbedingungen dieses Szenarios sind zudem dynamisch, Märkte werden durch technische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Trends beeinflusst und manchmal durcheinander gewirbelt. Rohstoffpreise, Moden und Innovationen kann niemand vorhersagen. Das erschwert die Sache mit dem Gründen, dem Entwickeln neuer Produkte und dem Erschleißen neuer Märkte aber nur scheinbar. In Wirklichkeit steht uns gerade durch die Beschaffenheit der komplexen Domäne die Welt offen, denn hier herrscht Chancengleichheit! Google und Facebook können den Lauf der Welt ebenso wenig vorhersagen wie mein Startup. Mit Hilfe von Effectuation können Entrepreneurs jeder Kategorie Entwicklung mutig, elegant und schnell vorantreiben: Markttests, Risikominimierung und partnerschaftliche Öffnung von Geschäftsmodellen stehen jedem Akteur als Prinzipien zur Verfügung. Zukunft ist nicht vorhersagbar, wenn es um Entwicklung geht – aber wir können unsere eigene erheblich beeinflussen. Um im Bild zu bleiben: wir können schon morgen, statt nur neuer Rezepte, zusammen mit anderen eine völlig neue Art des gemeinsamen Backens oder des Austauschs von Fahrradersatzteilen kreieren – und Facebook oder Google richtig alt aussehen lassen. Oder als Partner gewinnen.
- Am Ende beschreibt Snowden noch die Domäne, die allen Angst macht – mit der wir aber rechnen sollten: die chaotische Situation. Im Chaos ist Führungsstärke gefragt, denn wenn es brennt, sollte vor allem jemand da sein, der die Nerven behält. Im Chaos gilt es möglichst schnell die Situation in Ordnung zu bringen. Im Chaos beweisen sich aber nicht nur Führungspersönlichkeiten, es zeigt sich auch, wer bereit und in der Lage ist, Kommandos zu folgen. Führungskultur entsteht und beweist sich im Chaos und manchmal werden hier sorgfältig entworfene Organigramme auf den Kopf gestellt.
Unternehmen können mit Hilfe dieses Frameworks ihre Balance aus notwendiger Stabilisierung und dynamischer Entwicklung ausloten und gegebenenfalls korrigieren. Ein Beispiel aus der Praxis: Der Geschäftsführer eines Berliner Unternehmens (200 Mitarbeiter, Betrieb von Kitas, Schulhorten und Jugendzentren) ist mit 20 Führungskräften auf Klausur, um das folgende Geschäftsjahr vorzubereiten. Er möchte gemeinsam mit Allen den Fokus auf mehr Entwicklungsarbeit richten, neue Produkte und Märkte schneller ins Auge fassen und bearbeiten. Die Bereichsleiter sind einverstanden, formulieren aber ebenso klar ihr eigenes Bedürfnis: Routinen und Stabilität herzustellen, die eine Entwicklung aus ihrer Sicht erst möglich machen. Aktuell gefährden hohe Krankenstände die tägliche Arbeit.
Beide haben ihre Rolle im Framework gefunden. Aufgabe der Geschäftsführung ist es, an morgen zu denken und dem Unternehmen eine Zukunft zu denken und zu formen. Der Chef fokussiert sich also auf das komplexe Feld der Entwicklung. Die Bereichsleiter wiederum richten Ihr Augenmerk auf das Feld der Prozessoptimierung. Wo Routinen nicht funktionieren, fehlt auch die Energie für komplexe Entwicklungsarbeit.
Mit dem Cynefin Framework können wir nicht nur unterschiedliche Situationen identifizieren, wir können Probleme sogar durch die Räume tragen: wie ein weißes Blatt Papier erscheint die Situation dann in jedem Raum in anderem Licht. Am Beispiel des hohen Krankenstandes in Schulen und Kitas, der Pläne und Visionen immer wieder über den Haufen wirft, bedeutet dies, dass jetzt ganz unterschiedliche Lösungsansätze sichtbar werden:
- OPTIMIERUNG: Wir konzentrieren uns darauf, die Abläufe bei Personalausfall zu verbessern. Wer kann wann noch schneller einspringen, wo können Schüler mit vorbereiteten Ersatzaufgaben beschäftigt werden?
- LÖSUNG: Wir analysieren gemeinsam mit Experten in Ruhe das Problem. Welche Ursachen hat der hohe Krankenstand? Wo lassen sich Lösungsansätze und Strategien finden?
- ENTWICKLUNG: Möglicherweise ergeben sich vollkommen neue, revolutionäre Ansätze, um mit diesem Problem umzugehen? Gibt es irgendwo auf der Welt bereits Modelle, die wir noch nicht kennen? Studienreisen, Entwicklungszirkel, Expertenanhörungen aus fremden Branchen: die Möglichkeiten sind unendlich – wir müssen sie nur entdecken und ausprobieren.
Ein Großteil aller Prozesse eines etablierten, gesunden Unternehmens spielt sich in der Domäne der einfachen Situationen ab. Europäische Firmen sind Weltmeister der Prozessoptimierung, aus Europa kommen vermutlich die besten Bohrmaschinen und die meisten Autos. Allerdings lauert eben hier auch die Gefahr der dominanten Logik: auch Kodak hat mal die besten Filme der Welt produziert, bis niemand mehr Filme brauchte. Unser Überleben morgen hängt von der Domäne der komplexen Prozesse ab. Um nicht, wie es Kodak oder Nokia passiert ist, Trends zu verschlafen oder zu sträflich ignorieren, müssen wir als Entrepreneurs die Zukunft aktiv mit gestalten, statt nur die Kosten und die Qualität der Gegenwart weiter zu optimieren (vgl. Gassmann, Frankenberger, Csik, „Geschäftsmodelle entwickeln“, Seite 10 ff).
Der Großteil aller Prozesse eines Startups liegt vermutlich in komplexen Situationen. Etablierte Vorgänge belasten hier noch nicht die Kreativität und die Entwicklungsgeschwindigkeit. Die Herausforderung für junge Unternehmen liegt in der Startphase darin, Strukturen zu schaffen, die für Ruhe sorgen, nicht aber für Stillstand und Blockade.
Als Unternehmensberater und Gründungscoach habe ich mit dem Cynefin Framework gute Erfahrungen gemacht. Es bietet eine interessante Perspektive auf Organisation und hilft unter anderem bei der Beantwortung der Frage, wo Effectuation besonders wirkungsvoll ist.
In meinem Blog zum Thema beschreibe ich den dynamischen Umgang mit den vier Feldern des Cynefin Framework unter dem Stichwort HOME Office.
Oliver Schmidt ist Unternehmensberater (Sandwichpicker, Hultgren Nachhaltigkeitsberatung) sowie Gründungsberater für Student/innen und Absolvent/innen zahlreicher Universitäten (FU Berlin, HU Berlin, HTW Berlin, HNE Eberswalde, Europauniversität Viadrina Frankfurt (Oder), Universität Trier). Am liebsten erklärt er die Welt in Vorträgen und Workshops im Spannungsfeld zwischen Management, Marketing und Nachhaltigkeit.