„Jetzt finden die Idee alle geil. Durch Medienberichte über das Lager Zaatari sind Flüchtlingsstädte in aller Munde. Wissenschaftler, Architekten, Städteplaner und viele andere Professionen nehmen sich des Themas an.“ Kilian Kleinschmidt, einst „Bürgermeister“ von Zaatari, dem größten Flüchtlingslager im Nahen Osten, ist jedoch bereits einige Schritte weiter. Mit seiner Firma IPA (Innovation and Planning Agency) ist er jetzt Partner in einer Gruppe von Organisationen, die sich mit Sonderwirtschaftszonen in der Form von Flüchtlingsstädten auseinandersetzt. Unter dem Schlagwort „Refugee Cities“ wollen sie Staaten wie zum Beispiel Jordanien die Einrichtung von Entwicklungsgesellschaften anbieten, die Siedlungen und Sonderwirtschaftszonen als Flüchtlingsstädte aufbauen, in denen die geflüchteten Bewohner legal arbeiten und unternehmerisch tätig werden können. Das Konzept geht jetzt in einen Wettbewerb der McArthur-Stiftung, in dem 100 Mio. Dollar für weltverändernden Ideen ausgeschrieben sind.
Kleinschmidt ist davon überzeugt, dass es neue Strukturen braucht, um die humanitären Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen: „Ich frage mich, wie kann ich modular aus einem offenen Werkzeugkasten die Werkzeuge zusammenführen, die für eine bestimmte Problemlösung notwendig sind. Diese Lösungen müssen vor allem zugänglich gemacht werden“, beschreibt er die Idee seiner Arbeit. „Refugee Cities“ als Lebens- und Wirtschaftsräume zu errichten ist dabei nur eine der Ideen, die er bearbeitet. Mit einem Münchner Unternehmen baut er beispielsweise gerade eine Projektentwicklungs- und Finanzierungsgesellschaft auf. Gemeinsam sollen humanitäre Projekte in allen Regionen der Welt gefunden und finanziert werden – beispielsweise durch Fonds oder Bonds. Kleinschmidts Stärke dabei ist es, Menschen und Ideen zusammen zu bringen. Als Ein-Mann-Firma mit einer Assistentin zeigt er Organisationen wie der UNO, wie humanitäre Hilfe unternehmerisch gestaltet werden kann.
Doch der Reihe nach: Wo kommen eigentlich die großen Ideen her? Und was haben sie mit dem Ideengeber zu tun? Die Genese der „Refugee Cities“ ist eng mit Kleinschmidts Geschichte verbunden. Und diese lässt sich als Geschichte des unternehmerischen Handelns – eben als Effectuation-Geschichte – lesen.
Chaos und Not als Handlungsanlass
Es ging drunter und drüber, als Kilian Kleinschmidt 2013 die Campleitung für Zaatari in Jordanien, dem größten Flüchtlingslager im Nahen Osten, übernahm: Mafia, Waffenschmuggel, Hehlerei, Gewalt und Konflikte in einem komplizierten Geflecht an Ethnien standen auf der Tagesordnung. Die UNHCR hatte das Lager nach den üblichen humanitären Standards aufgebaut, die u.a. festlegen, wieviel Wasser, Lebensmittel, Küchen, Toiletten usw. pro 1000 Personen benötigt werden. In Zaatari funktionierten diese Standards nicht: Wurde beispielsweise ein Küche installiert, war sie am nächsten Tag verschwunden und als Privatküchen in einem Zelt wieder aufgebaut. Die Verhältnisse waren so katastrophal, dass manche Flüchtlinge sogar lieber zurück über die Grenze nach Syrien flohen als im Lager zu bleiben.
Erheben, was im Kühlschrank ist
Kleinschmied begann damit zu erkunden, was ist. Während andere Mitarbeiter von Hilfsorganisationen abends das Lager verließen, ging er auf Erkundungstour. Er führte Gespräche mit allen Menschen, mit denen er in Kontakt kommen konnte, ohne verprügelt zu werden. Er fand heraus, dass viele der Spannungen im Lager darauf beruhten, dass Menschen aus unterschiedlichsten räumlichen und sozialen Strukturen auf engstem Raum miteinander leben sollten. Die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen im Lager erlebten sie als Verwalter von Almosen. „Für die Menschen, die alles verloren haben, ist Privatsphäre und Individualität das erste was sie suchen“ und „wenn sie also eine private Dusche mit Menschen aus ihrem Stamm oder ihrer Großfamilie haben können, warum sollten sie mit anderen teilen?“ Die Strukturen im Lager, die auf Solidarität und den Bewohnern beruhten, funktionierten daher nicht und die Menschen taten alles was in ihrer Macht stand, um ihre Umwelt (Hütten, Küchen, Duschen …) zu privatisieren. So und ähnlich beschrieb Kleinschmidt Lager und Menschen als Stadt mit ihren Bewohnern und allen Problemen einer rasch wachsenden Stadt.
Vage Zielvorstellungen: Kein Lager – eine Stadt!
„Den Gedanken des Lagers als Stadt hatte ich bereits zwei Jahre davor in Kenia.“ Dort wurde 1992 Dadaab als Lager für 90.000 Flüchtlinge gegründet. Heute, mehr als 25 Jahre später, leben eine halbe Million geflüchtete Menschen an diesem Ort, der auf keiner Landkarte eingezeichnet ist. Kleinschmidt war 2012 stellvertretender Leiter der UNHCR in Nairobi. Als Krisenmanager der UNHCR in Zaatari konnte er auf seine Erfahrung aus Kenia aufbauen: Er erklärte sich kurzerhand zum „Bürgermeister“ von Zaatari, der damit viertgrößten Stadt Jordaniens.
Rasch ins handeln kommen
Mit diesem neuen Bild der Stadt war es plötzlich möglich, die Privatisierung im Lager aktiv zu unterstützen und den geflüchteten Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Fähigkeiten dafür einzusetzen. Hilfsgüter müssen beispielsweise nicht mehr verteilt werden, wenn die Menschen in Zaatari mit Guthaben auf Chipkarten in von anderen Bewohnern geführten Supermärkten einkaufen können. Das Bild der Stadt wirkte als unternehmerische Beitragseinladung, auf die hin sich an verschiedensten Stellen Menschen mit dem wer sie sind, was sie können und wen sie kennen einbringen konnten: Entlang der asphaltierten Straßen im Lager entstanden Geschäfte, Friseurläden, Cafes, Reisebüros, Pizza-Lieferservices – all das, was eine funktionierende Wirtschaft und ein normales Leben ausmacht. Keine zehn Tage, nachdem Stadtplaner der Stadt Amsterdam vor Ort waren und gefragt haben, warum es hier keine Fahrräder gibt, standen drei Fahrradgeschäfte in Zaatari.
Weitere Partner ins Boot holen
„Jeder, der uns einen Besuch abstattet, schenkt zehn Fußbälle oder ähnliches und verschwindet dann wieder“ beschrieb Kilian Kleinschmidt eines seiner Probleme als Bürgermeister von Zaatari. Als solcher verbrachte er viel Zeit damit, Delegationen zu treffen und das Konzept des Flüchtlingslagers als Stadt vorzustellen. Dabei konnte er die Besucher zu Beiträgen einladen und vieles wurde dann schnell, unbürokratisch und kostengünstig möglich. Einmal kam Michel Platini, damals Präsident der UEFA, zu Besuch. „Zu einer Stadt gehören Fußballklubs“, so Platini, danach gefragt, was er zu einem guten Leben in einer Stadt beitragen könne. Kurz darauf waren zwei Mitarbeiter der UEFA fix vor Ort. Einer bildete Fußballtrainer aus, der andere baute Klubs auf. Einige Wochen später gab es in Zaatari mehr als 10 Teams, bei denen auch 250 junge Mädchen spielten. Bis es eine Idee wie „Fußballklubs“ durch die Mühlen der Bürokratie großer Organisationen wie der UNHCR schaffen würde, würden Monate, wenn nicht Jahre vergehen. Unternehmerische Lösungen sind da wesentlich schneller realisierbar. Kilian Kleinschmidt dazu: „Wir müssen daher ein internationales Netz an Universitäten, Städten, Experten und Firmen schaffen, um schnell und unbürokratische Hilfe leisten zu können.“
Die Transformation von Ideen
Wenn sich nun der Unternehmer Kilian Kleinschmidt im Projekt „Refugee Cities“ engagiert, dann nicht, weil er über Nacht und aus heiterem Himmel eine brillante Idee hatte. Die Ideen sind viel eher das Ergebnis aus einer langen Serie an individuellen Erfahrungen und unternehmerischen Handlungen, die heute seine Mittelbasis ausmachen. Die Mittel kommen aus mehr als 25 Jahren in der Entwicklungshilfe in Krisengebieten rund um die Welt. Diese kann er nun einbringen und immer dann zu neuen Ideen transformieren, wenn sich durch neue Begegnungen neue Möglichkeiten ergeben. „Diese Dinge ergeben sich heute dadurch, dass ich nach draußen gehe und sage „Ich bin da, ich habe Ideen.“ Beschreibt er selbst im Gespräch diesen Prozess. „Mittlerweile kommen immer mehr Leute auf mich zu, die sagen „das hört sich ja spannend an“. Und dann fragen wir uns, was wir zusammen machen können. Ich gehe mittlerweile davon aus, dass ich mit jedem Menschen irgendwo eine Möglichkeit habe, etwas zusammen zu machen.“
Quellen: Kilian Kleinschmidt im ausführlichen Gespräch mit Michael Faschingbauer über unternehmerische Lösungen für humanitäre Problem am 10.11.2016 in Wien.
Zur Person
Kilian Kleinschmidt ist ein internationaler Netzwerker und humanitärer Experte mit mehr als 25 Jahren Erfahrung in vielen Ländern und Krisensituationen. Als Gründer und Vorstandsmitglied der Startup-Organisation Innovation & Planning Agency in Wien glaubt er an das Potential moderner Technologien und der Vermittlung von Know-how als Chance für die Menschheit. Kilian Kleinschmidt war stellvertretender humanitärer Koordinator für Somalia, stellvertretender UNO Botschafter in Pakistan, Direktor a.i. der Abteilung für Rückkehr und Minderheiten der UNMIK im Kosovo, Generalsekretär für Rückkehr, Migration und Flüchtlingsinitiative im West-Balkan, und für UNHCR, UNDP, WFP in vielen Krisenherden in Afrika und Südostasien tätig. Kilian Kleinschmidt wurde vor allem durch seine Arbeit als Bürgermeister von Zaatari bekannt, als er in den Jahren 2013/14 das zweitgrößte Flüchtlingslager der Welt managte. Zaatari wurde dadurch zu einem Symbol für neue und innovative Ansätze im humanitären Bereich und in der Organisation von Flüchtlingslagern. Kilian Kleinschmidt fordert das traditionelle humanitäre System durch neue Partnerschaften, Technologien und neue Finanzierungsansätze heraus. In diesem Zusammenhang arbeitet er an Themen wie der Urbanisierung von Lagern und Slums und der Entwicklung neuer Städte. Seit September 2015 berät Kilian Kleinschmidt das österreichische Innenministerium in der Flüchtlingssituation. Weiters ist er Sonderberater für das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Thema Fluchtursachen. Seine Autobiographie “Weil es um die Menschen geht” ist 2015 beim Econ Verlag erschienen.